Erinnerung an Heimat? (Teil 1)
Meine Antworten auf freundlichen Fragen
Brief – An Evangelische Kirche Grimmen, 09. Mai 2024
Liebe Frau M.,
vielen Dank für Ihre schnelle Mail mit den Fragen meines Kinder-Lebens in Grimmen. Ich habe in meinen alten Tagebüchern versucht nachzulesen. Hier meine ein wenig hilflosen Antworten auf Ihre Fragen.
Ja – ich weiß noch ganz genau, wo ich in Grimmen bis 1958 gewohnt - und wo ich zur Schule ging. Grimmen war mir mein ganzes Leben in meinen Erinnerungen, Nachfragen und im Nachdenken sehr präsent.
Ich wurde am 21.08.1948 in Bartmannshagen im Kreiskrankenhaus Grimmen geboren. Getauft am 26.12.1948 in der Kirche St. Marien. Laut Urkunden.
Meine Mutter ist eine Frau namens Erika Klara Luise Ueckert, eine geborene Quast, eine verwitwete Genetzky, geboren in Kreuz am 04.07.1921. Sie kam Januar 1945 mit der Stadtverwaltung Kreuz bei Schneidemühl nach Grimmen – in der Flucht vor der Roten Armee.
Im Juni 1945 wurde meine Mutter mit vielen geflüchteten Bürgern aus Kreuz auf Befehl der neuen russischen Besatzungsmacht zur einer quasi erneuten „Flucht“ nach Kreuz wandern, in ihre Heimat. An der neuen Grenze zwischen Deutsche Sowjetzone/Polen ließen Soldaten aus Polen meine Mutter und die anderen nicht weitergehen – in Richtung Heimat Kreuz. Das ist jetzt Polen.
Meine Mutter und die anderen aus Kreuz wurden mit ihren wenigen geretteten Koffern vom Januar 1945, der ersten Flucht, jetzt geplündert - bestohlen – und wurden von den Polen per Fuß in Richtung Grimmen geschickt.
Die Eltern meines Vaters – meine Großeltern Ueckert auch aus Kreuz – waren damals schon alte Menschen. Meine Großmutter Ueckert starb nach diesen Fluchten 1946 - und ist in Grimmen beerdigt. Der Großvater Ueckert starb 1951 in seinem kleinen Zimmer in der Quebbe 2 – und sein Grab ist auch in Grimmen.
Die (Stief-)Mutter meiner Mutter ist mit den beiden anderen Kindern – eine 16jährige Tochter, ein 12jähriger Sohn – mit dem Treck von der Stadt Kreuz mit den Bauern unterwegs auf den Landstraßen in Richtung Westen. Diese deutschen Flüchtlinge wurden von der roten Armee überrollt. Meine damals 16 Jahre alte Tante wurde von einigen russischen Soldaten vergewaltigt.
Als diese Tante in Westberlin bei den Großeltern Quast wohnte – Eltern meiner Mutter, da hörte ich als kleiner Bub sehr oft nachts die Tante im Schlaf brüllen. Offenbar im Traum vor Angst. Meine Großmutter sagte mir damals, das Schreien der Tante im Schlaf liege daran, dass diese Tante als Kind auf den Kopf gefallen sei. Daher dieses Schreien. Die Wahrheit wurde mir erst als Zehnjähriger von meiner Mutter erzählt.
Als ich bei meiner Kriegsdienst-Verweigerung 1970 in Heilbronn bei meiner zweiten Befragung 1970 durch den „Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerung beim Kreiswehrersatzamt Stuttgart“ befragt wurde, was ich denn machen, wenn jetzt wieder die russischen Soldaten das gleiche mit meiner Tante in Heilbronn machen würden - wie Januar 1945 - wenn ich dazu eine Pistole besitze, was würde ich tun? Ich: Nichts. Mit meiner Kriegsdienst-Verweigerung wolle ich ja einen neuen Krieg verhindern.
Mein Vater Heinz Ueckert kam 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft – seine Heimat Kreuz gab es nicht mehr, die Stadt Kreuz war polnisch geworden – er wohnte zunächst in Thüringen, dann fand er mit der Hilfe des Roten Kreuzes seinen Vater in Grimmen.
Meiner Eltern, Erika Quast (*1921) und Heinz Ueckert (*1921), waren Schulkameraden in Kreuz. Und sie hatten sich seit 1935 nicht mehr gesehen. Meine Mutter hatte sich in dieser Zeit in Grimmen ein wenig um den alten und verwitweten Paul Ueckert, Grimmen, Quebbe 2, bekümmert.
So kam es, dass meine Eltern im Januar 1948 in Berlin-Neukölln – bei den Eltern (Quast) meiner Mutter heirateten.
Mein Vater hatte vor dem Krieg eine Lehre als Friseur gemacht – nach der russischen Kriegsgefangenschaft war er wegen TBC erkrankt – nach wieder gesund besuchte er eine Weiterbildung bei Berlin - und arbeitete danach als Buchhalter in Appelshof-Grimmen.
Diese neue Familie Ueckert wohnte in Grimmen in einem kleinen Zimmer bei einer Lehrer-Witwe namens Bremer in der Lindenstraße 10 in Grimmen. Dort wuchs ich auch auf – mit den Buben der Witwe.
Meine Schwester kam 1951 zur Welt – und wir zogen in eine kleine Wohnung in die Strohstraße 7 in Grimmen – bei einer Familie Glaab.
Meine erste Schule, die ich besuchte, war die Robert-Koch-Schule in Grimmen - im September 1955 wurde ich eingeschult - Lehrerin war eine Frau H. Schulz. Eine wunderbare Frau – in meiner Erinnerung.
1956 wechselte ich in die Friedrich-Wilhelm-Wander-Schule in Grimmen. Die Lehrerin war eine Frau I. Schulz. Sie war drei Jahre lang meine Lehrerin und eine kluge Pädagogin.
Ich fühlte mich als Kind in Grimmen sehr wohl, geborgen – diese romantische pommersche Stadt mit den drei Stadttoren, einem wunderschönen Rathaus mit Marktplatz, mit der gotischen Stadtkirche St. Marien – meine Mutter versorgte für mich als Baby die notwendigen Lebensmittel - durch ihre Arbeit bei den Bauern in den Dörfern um Grimmen. In dieser Zeit waren Lebensmittel in Deutschland sehr knapp.
Allerdings – später dann - als Kind hungerte ich in Grimmen nicht, ich hatte wunderbare Schulkameraden, ich hatte keine Sehnsucht nach westlichen Dingen wie Kaugummi und westlichen Kuchen - ich war glücklich in Pommern.
Bei den mindestens zwei Besuchen pro Jahr bei meinen Großeltern in Westberlin-Britz bekam ich neue Schuhen, Hosen, Hemden – wurde beim Arzt in Britz untersucht – auch bekam ich Kaugummi, Cola und Western-Filme im Kino zusehen. Aber die Stadt Berlin war mir zu groß – und zu schnell.
Meine Mutter lebte von 1935 bis 1944 in Berlin – hatte dort ihren ersten Mann (den Wehrmacht-Berufssoldaten Heinz Genetzky) geheiratet – und wollte nach dem zweiten Weltkrieg immer wieder nach Berlin – für meine Mutter war Berlin ihre Heimat, dort lebten ihre Freundinnen.
Mindestens zwei bis drei Besuchen von Westberlin waren gefährlich für uns als DDR-Besucher: Reisende aus den Norden (Vorpommern) wurde in Oranienburg überprüft – zumindest wurden die Personalausweise der Reisende von der Volkspolizei kontrolliert.
Ich war fünfjährig als ich zusammen mit meiner Schwester und meiner Mutter dort von der Volkspolizei überprüft – wegen eines neuen Mantels und Schuhe meiner Mutter, in Westberlin geschenkt bekommen. Wir mussten den Zug verlassen, wurden auf einem LKW verfrachtet – und zu dem ehemaligen KZ Sachsenburg gefahren (1945 bis 1950 sowjetisches Speziallager für ehemaligen Nazis).
Meine Mutter wurde in einer Baracke in ein anderes Zimmer gebracht - weg von uns Kindern. Wir Kinder haben vor Angst geschrien, weil die Mutter weg war – und wir mit der Uniformierten im Zimmer waren.
Nach Stunden wurde meine Mutter nach ihren Vernehmungen (meine Mutter musste sich dazu ausziehen, erzählt sie später) wieder zu uns Kindern gebracht – es war nach Mitternacht – dann wir wurden von der Volkspolizei mit dem LKW wieder zum Bahnhof gebracht – und waren gegen um die sechs Uhr wieder in Grimmen. Mein Vater wartete – und war sehr, sehr aufgeregt.
Später sagte mir meine Mutter, dass diese Volkspolizei und ihre Methoden typisch für die Diktatur – wie bei den Nazis auch. Dieses Erlebnis in der kommunistischen Diktatur prägte mein Leben – bis heute.
Am Buß- und Bettag 1958 wurde ich von meinen Eltern „in den kapitalistischen Westen verschleppt“. Wir Kinder wurden nicht informiert. Wir hatten in der DDR keine Verwandtschaft. Unsere Verwandten wohnten alle im Westen - in Raststatt/Baden, Kiel, Hamburg, Duisburg und Westberlin.
Nur eine Schwester von meinem Großvater Ueckert wohnte noch in Borkheide bei Potsdam. Im Wochenendhäuschen des anderen Ueckert-Bruders Willy (Siemens-Direktor), der in einer schönen Villa in Westberlin lebte.
Für mich war diese „Verschleppung“ durch die Eltern ein ganz großer Schock in meinem jungen Leben. Ich kam als zehnjähriger und plattdeutsch-sprechender Schüler nach Baden-Württemberg, der nicht badisch und schwäbisch verstand.
Wir lebten jetzt als Familie nun im Westen, sprich Bundesrepublik, zunächst in den Flüchtlingslagern in West-Berlin, dann in Freistett/Baden, 1959 in Weinsberg/Württemberg und seit 1960 in Heilbronn.
Die Grundschulen besuchte ich zunächst bei den Flüchtlingslager-Orten - und bis 1964 in Heilbronn. Danach besuchte ich das Aufbaugymnasium in Künzelsau – bis zum Abitur. Künzelsau, eine Stadt, die mich an Grimmen erinnerte. Hohenlohe insofern war mein neues Vorpommern.
Ich war als Schüler in Künzelsau/Hohenlohe (wo heute der Milliardär Reinhold Würth wohnt) aktiv in der evangelischen Kirche. Bis hin zum Mitglied des Kirchen-Chors in Künzelsau, das pro Jahr eine Passion Bachs oder Mozart aufführte.
Höhepunkt in meinem „christlichen Leben“ aber war – ich wurde einer der Organisatoren der Jugend-Halle beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1969.
In dieser Zeit wurde ich als Schüler auch Mitglied der SPD. In Künzelsau.
Der Grund … Mein Vater war nach seiner russischen Kriegsgefangenen 1947 in die SED eingetreten (er hatte sich geweigert, in der Zeit 1933-1944 in eine Nazi-Organisation einzutreten). 1953 gab er sein SED-Mitgliedbuch zurück - mit dem Satz: Er wolle nicht in einer Arbeiter-Partei Mitglied sein, die auf streikende Arbeiter schießt.
Trotzdem bewunderte mein Vater das russische Volk, die russische Literatur und Musik – und auch Russland. Trotz des Kommunismus und der politischen Verbrechen.
Ich wollte mit meiner SPD-Mitgliedschaft meinem Vater ein wenig zeigen, dass es in der Wirklichkeit in Deutschland eine gerechte, ehrliche und soziale deutsche Partei im Kapitalismus gibt. Und ich wurde SPD-Genosse - auch wegen des Emigranten Willy Brandt und seiner Friedenspolitik.
Aber - ich war sehr schockiert über die reale Sozi-Partei – vor allem in Künzelsau.
Erschrocken war ich vor allem über die Hetz-Reden der SPD-Genossen gegen die Gastarbeiter in Westdeutschland hielten - wie bei den Nazis. Diese Sozi-Genossen behaupteten in ihren Reden, Schuld für die deutsche Wirtschaftskrise im Jahr 1968 seien der Gastarbeiter aus Griechenland, Italien, Spanien, Portugal oder Jugoslawien gewesen.
Ich hatte viele Schulkameraden aus Gastarbeiter-Familien. Sollten diese jetzt abhauen aus Deutschland - auswandern? Fragte ich. Gegen diese grausame Ideologie wollte ich deshalb ankämpfen. Das Denken aus der braunen Diktatur war damals in der Bundesrepublik noch sehr präsent.
Sozis und Kirche – gerührt mit Nazi-Tradition. Deutsche Spießer-Gesellschaft.
Siehe (Teil 2)
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